Lebensmittel, mit denen man sein Leben gut meistern kann

Ein Beitrag von Birgitta Fissahn

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Stille – ein Lebensmittel, das stärkt und bereichert

Der norwegische Autor Erling Kagge ist Verleger und bekennender Abenteurer bei Süd – und Nordpol-Expeditionen.  Er hat jetzt einen Wegweiser zur Stille verfasst, der beim Insel- Verlag erschienen ist.

Auf den ersten Blick ist das Buch selbst sehr still: weißer Schutzumschlag, zurückhaltende Typografie, keine Coverillustration. Ganz anders der Bucheinband – eine belebte Straßenkreuzung, vermutlich in Berlin, die mit diversen Verkehrsteilnehmern bevölkert ist, deren sich überkreuzende Routen mit Neonfarben nachgezeichnet sind.

Für Kagge bewegt sich der moderne Mensch in diesem Spannungsfeld:

Es geht um äußere Stille, die gerade für den urbanen Zeitgenossen ein rares Gut ist, und um die innere Stille, die wir in uns haben, erwecken oder gar neu schaffen müssen. Denn dass wir ihrer als „Lebensmittel“ dringend bedürfen, steht für Kagge außer Frage:

„ Die Stille ist eine Bereicherung an sich. Es ist eine Qualität, etwas Exklusives und Luxuriöses. Ein Schlüssel, mit dem sich neue Arten des Denken erschließen. Ich denke dabei nicht an Entsagung oder etwas Spirituelles, sondern eine praktische Ressource für ein reicheres Leben.“

( a.a. O., S. 41f.)

Wir denken dabei sehr ähnlich wie Kagge, ohne uns die spirituelle Komponente versagen zu wollen. Denn dass diese durchaus bereichernd sein kann, wird noch zu zeigen sein.

Kagge wartet mit zahlreichen Versuchen einer Antwort auf, was Stille ist, wo sie ist, und wie wir ihrer habhaft werden können. Die überzeugendsten und schönsten Gedanken dazu möchten wir hier darstellen.

Wir leben in Zeiten des Lärms. Eine Gegenbewegung ist es, zu etwas Ursprünglichem und Authentischem zurückzukehren. Es wird geimkert, gekocht, eingekocht, gekäst, Bier gebraut, Holz gehackt und geschichtet, gegärtnert, gewandert, ….- Tätigkeiten, mit denen man sich zumeist geradezu aus der lärmenden Welt herausnimmt. Man benutzt seine Physis, ist in einer eigenen ruhigeren Welt, und wenn man Glück hat, kommt etwas Passables dabei heraus. Aber darauf kommt es auch gar nicht an. Möglicherweise ist die Antwort: mittels solcher Tätigkeiten schalten wir die laute Welt samt ihrer unvermeidbaren, aber auch vermeidbaren Lärm- und Beanspruchungsquellen aus.

Fridtjof Küchemann rezensiert Kagges Buch in der FAZ vom 9. Mai. Seiner Meinung nach hat man ziemlich viel selbst in der Hand: „Stille braucht eine Haltung, einen Anlass, eine Rahmung, wie es scheint.” Stille heißt für Erling Kagge,  „eine Pause einzulegen, um Dinge wiederzuentdecken, die uns Freude bereiten.“

Interessant in diesem Kontext ist ein sidestep zu dem in diesem Frühjahr erschienenen neuen Roman von Pascal Mercier, Das Gewicht der Worte, München 2020. Der Protagonist des Romans ist überzeugt davon, an einem unheilbaren Hirntumor zu leiden, und schreibt Briefe an seine bereits verstorbene Ehefrau. Er fällt rückblickend ein hartes Urteil über die Erwartung der anderen (Mitmenschen), die er als Tyrannei empfindet:

„All das hat, so will es mir vorkommen, auch etwas mit meiner Sehnsucht nach Stille zu tun. In der Stille schweigen die Erwartungen der anderen. Die Geräusche der Natur, auch diejenigen der Tiere, stören nicht, sie beeinträchtigten nicht, was an der Stille wesentlich ist: dass keine Erwartungen anderer Menschen zu hören sind, die mich bedrängen und von mir selbst abbringen könnten.“

(Pascal Mercier, a.a.O., S.103)

Von sich selbst abbringen – das sieht auch Kagge so: Lärm schlägt die eigenen Gedanken in die Flucht; banaler Zeitvertreib durch die beherrschungswilligen neuen Medien, die uns begleiten – oder besser – am lautstarken Gängelband führen – lenken uns fatalerweise fortwährend ab und ziehen uns von uns selbst weg.

„In unserem Eifer, die neue Technologie zu nutzen, geben wir unsere Freiheit auf.“

(a.a. O., S.77)

Eine geradezu simple, aber richtige Feststellung von Kagge ist, dass es

„eine der großen Mysterien der Welt ist, wie organische Schönheit (und Nahrhaftigkeit!) still aus der Erde wächst.“

(a.a. O., S. 62)

Dazu wunderbar und wahr:

„Es wächst viel Brot in der Winternacht, weil unter dem Schnee frisch grünet die Saat; erst wenn im Lenze die Sonne lacht, spürst du, wie Gutes der Winter tat.”

(Friedrich Wilhelm Weber, 1813- 1894)

Und auch Kagge kann poetisch werden:

Die Stille, die im Gras wohnt,

An der Unterseite jedes Halms,

Und in dem blauen Zwischenraum zwischen den Steinen.

(a. a. O. S. 41)

Ein weiterer Aspekt Kagges: Er verweist auf eine äußerst positive Verbindung von (schönen) Geräuschen wie Musik – eben nicht Lärm! – und Stille:

„Unser Gehirn ist darauf eingestellt, seine Aktivität zu erhöhen, wenn die Musik sich in einem Grenzbereich befindet oder sich verändert. Wenn es auf einmal still wird und danach ein Ton kommt, nachdem es erst ruhig war, oder wenn man tanzt und erwartet, dass ein Ton abgewandelt oder die Lautstärke variiert wird, hat man das Gefühl, als dehne sich das Gehirn aus.”

(a.a.O. S. 108)

Wow! Was für ein Gedanke! …

Der weltbekannte Dirigent Claudio Abbado hätte wahrscheinlich nicht „wow“ gesagt, aber die Idee als solche durchaus bedenkenswert gefunden. Lesen wir herein in ein Interview, das er der FAZ am 9.7.2011 gegeben hat:

Was hören Sie im Schnee, Signore Abbado?

Es liegt so eine wunderbare Ruhe in dieser Landschaft (dem Fextal im Engadin)… und ich liebe den Klang des Schnees.

Sie hören den Schnee?

Natürlich ist das nur ein ganz minimales, nicht einmal wirkliches Geräusch, ein Hauch, ein Nichts an Klang. In der Musik gibt es das auch: wenn in einer Partitur ein Pianissimo vorgeschrieben ist, das bis zum „niente“ geht. Dieses „niente“ kann man dort oben akustisch erfahren.

Grazie mille; Danke, Danke, Maestro Abbado!!!

Aber auch das Große , das Transzendentale, benötigt keine Pauken und Trompeten und keine lärmenden Dezibelzahlen. Es ist – wenn wir es wollen -auf leisen Sohlen unterwegs:

Kagge konstatiert:

„Über 1000 Jahre lang waren Menschen, die weitgehend allein lebten – Mönche in den Bergen, Eremiten, Seefahrer, Schafhirten und Entdecker auf ihrem Weg nach Hause  – überzeugt, dass die Antwort auf die Mysterien des Lebens in der Stille zu finden sind.“

(a.a.O., S. 81)

Er bekennt sich dazu:

„Wenn etwas über einen so langen Zeitraum für wichtig gehalten wird, gibt es gute Gründe, das ernst zu nehmen. In der Bibel ist Gott häufig die Stille. …. Mir gefällt das.“

( a.a.O., S. 81)

Was genau gefällt ihm und wo steht das in der Bibel?

Elijas ist in in der Wüste und versteckt sich in der Höhle am Berg Horeb.  Voller Angst, weil er denkt, dass es ihm an den Kragen geht. Er will nicht aus der Höhle herauskommen: Im 1. Buch der Könige, 19, 11, auf das Kagge sich bezieht, heißt es:

„…Der Herr antwortete: komm heraus und stell dich auf den Berg vor dem Herrn!

Da zog der Herr vorüber: ein starker, heftiger Sturm, der die Berge

zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus. Doch der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der Herr war

Nicht im Erdbeben. Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer.

Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln.“

(Die Bibel, 1980, Stuttgart, Herder, S. 358)

Ein sanftes, leises Säuseln – ein besänftigendes Geräusch, dem wir uns weiterhin mit allen Sinnen zuwenden wollen.

Erling Kagge: Stille – ein Wegweiser 

Insel-Verlag  5. Auflage 2018