Über die Verborgenheit von Gesundheit: Aus Sicht des Philosophen Hans Georg Gadamer

Ein Beitrag von Birgitta Fissahn

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Im Spiegel Nr. 30 vom 18.7.2020 erschien ein Artikel über den „Leibarzt“ der Nation, Dr. Eckart von Hirschhausen. Der Autor Nils Minkmar zeichnet den Weg Hirschhausens zum vielgefragten und viele Kanäle bespielenden Gesundheitsaufklärer nach. Er stellt zu dessen Bühnenprogramm „ Endlich“ fest: „ Die wichtigste Botschaft des Abends: wir werden alle sterben, entspannt euch.“ Mit dieser Botschaft von Endlichkeit im Gepäck ist Hirschhausen einer der bekanntesten Ärzte Deutschlands geworden. Und weil das Leben vor dem Tod gut gelebt sein will, spricht er unermüdlich über den menschlichen Körper, die Medizin oder auch schon mal über das Konzept von Glück.

Hirschhausens saloppe Formulierung zur Endlichkeit ist Hans-Georg Gadamers Tonlage nicht. Der 1900 geborene und 2002 hochbetagt gestorbene Gadamer ist einer der bekanntesten deutschen  Philosophen des 20. Jahrhunderts. Aber letztlich sieht er als Philosoph die Sache ähnlich:

„Die chronischste aller Krankheiten ist doch wohl der Weg dem Tod entgegen. Diese unsere weiteste Bestimmung annehmen zu lernen ist die höchste Aufgabe des Menschen.“

( a.a.O. , S. 119)

Vor dieser natürlichen Begrenzung aber lebt der Mensch möglichst in Kenntnis  der eigenen Autonomie und Vorsorge. Und dazu hat Gadamer aus Sicht des hochinteressierten und philosophisch geübten Nichtmediziners einige zeitlose Erkenntnisse benannt und beschrieben.

Gadamer ist als Hermeutiker stets auf Spurensuche nach dem Sinn menschlichen Tuns. So befasst er sich immer wieder mit den Grundfragen menschlichen Lebens und denkt über die Seinszustände von Gesundheit und Krankheit nach. 1993 erscheint das Buch „ Über die Verborgenheit der Gesundheit“, das Aufsätze und Vorträge vornehmlich aus den 80-er und 90-er Jahren enthält.

Ausgehend von der Grundannahme, dass es kein Recht auf Gesundheit gibt, aber das Recht, danach zu streben, beleuchtet Gadamer die Kategorien und die Protagonisten, die im Kontext von Mensch und Gesundheit eine Rolle spielen. Diesen soll hier nachgespürt und seine Thesen dazu zusammengestellt werden.

Es soll gehen um:

1.  Gesundheit und Krankheit

2.  Arztbild und Rolle des Arztes

3.  Der Patient und seine Möglichkeiten

4. Die moderne Medizin

1. Gesundheit und Krankheit

Für Gadamer ist Gesundheit ein natürlicher Gleichgewichtszustand. Der gesunde Mensch fühlt sich wohl, ist unternehmungsfreudig, erkenntnisoffen und selbstvergessen. Ihm gelingt das Da-sein, In-der-Welt sein, mit den Menschen sein. Die Verborgenheit der Gesundheit ergibt sich daraus, dass sie ein geheimnisvolles Etwas ist, das wir kennen und nicht kennen, weil es so wunderbar ist, gesund zu sein.

„ …Gesundheit ist etwas, das all dem ( der objektivierenden Wissenschaft im Zuge der modernen Naturwissenschaft) auf eigentümliche Weise entzogen ist. Gesundheit ist nicht etwas, das sich als solches bei der Untersuchung zeigt, sondern etwas, das gerade dadurch ist, dass es sich entzieht. Gesundheit ist uns also nicht ständig bewusst und begleitet uns nicht besorgt wie die Krankheit……Sie gehört zu dem Wunder der Selbstvergessenheit.“

( a.a.O., S. 126)

Zum Topos der Verborgenheit gehört für Gadamer ganz wesentlich, dass sich die Gesundheit der Messbarkeit entzieht, vielmehr ein eigenes Maß, eine eigene Angemessenheit hat:

„Wenn man Gesundheit in Wahrheit nicht messen kann, so eben deswegen, weil sie ein Zustand der inneren Angemessenheit und der Übereinstimmung mit sich selbst ist, die man nicht durch eine andere Kontrolle überbieten kann.”

( a.a.O., S. 138)

Für die individuelle Gesundheit lassen sich eben keine Standardwerte definieren.

Anders sieht das für die Krankheit aus. Wohnt der Gesundheit eine selbstreferentielle Angemessenheit inne, so ist die Krankheit als Störung messbar. Das äußert sich in in dem aus dem Gleichgewicht gebrachten Zustand des Kranken, dem etwas fehlt. Insofern ist die berühmt- berüchtigte Frage in der Arzt-Patienten-Kommunikation nicht aus der Luft gegriffen. Krankheit stellt sich dar als Gleichgewichtsverlust, das den Kranken in seinen natürlichen inneren/ organischen und äußeren / sozialen Ausgleichsprozessen behindert. An dieser Stelle können dann durchaus Messungen in dem Sinne ins Spiel kommen, die z. B.außerhalb des Normbereichs liegende Vitalfunktionen misst. Ebenfalls gehört die Beschreibung von Symptomen dazu, die zur Diagnosefindung beitragen und damit die medizinische Wissenschaft von der Krankheit begründen. Gadamer nennt das das Wissen der Dinge im Allgemeinen; der Arzt sollte aber für ihn die Heilkunst beherrschen.

2. Arztbild und Rolle des Arztes

Gadamer weist auf die wichtige Rolle hin, die Ärzte oder weise Leute in allen Kulturen hatten oder haben, die Kranken zu Hilfe kommen – wenn auch teilweise ohne wissenschaftliche Basis. Aus seiner Sicht kommt dem Arzt eine Steuerungsfunktion zu:  Seine Aufgabe ist die Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts, in dem der Patient sich befindet. Gadamer beschwört an dieser Stelle die aus seiner Sicht geradezu idealtypische Rolle des früheren Hausarztes/ Leibarztes, der seine Patienten in ihrer Ganzheit kannte und aus der sich eine Gesprächsgemeinschaft ergab/ergibt, die sich in heutigen sogenannten Sprechstunden nicht einzustellen vermag:

„Es liegt ja doch in jeder ärztlichen Handlung eine Führung des Kranken, in der das Gespräch und die Gesprächsgemeinschaft zwischen Arzt und Patient eine entscheidende Rolle spielt.“

(a.a.O. , S. 104)

Der ideale Arzt verfügt über das Wissen zur Krankheit im Allgemeinen. Die eigentliche Heilkunst ergibt sich zusätzlich aus Urteilskraft, Erfahrung und Anwendung. Und dem Loslassen: Für Gadamer ist jedes ärztliche Handeln ein Eingriff, der selbst ein Störfaktor sein kann. „ Es ist die Wiederherstellung des Kranken, und ob sie der Erfolg des ärztlichen Wissens und Könnens ist, sieht man ihr nicht an.

„Der Gesunde ist nicht der Gesundgemachte. Daher bleibt in einer kaum auszuschließenden Weise die Frage offen, wie weit ein Heilungserfolg der kundigen Behandlung des Arztes verdankt ist und wie weit sich die Natur selbst geholfen hat.“

(a.a. O., S. 52)

Hier wird man sicherlich die Wirksamkeit ärztlichen Handelns bei akuten Unfallereignissen und ernsten und lebensbedrohlichen Krankheiten gesondert zu betrachten haben.

3. Der Patient und seine Möglichkeiten

Gadamer postuliert für den Kranken ein Verhalten, das dem Gesunden gleichermaßen gut anstünde: das Haushalten – mit Mitteln, Kräften und Zeit. Das Erlernen der Fähigkeit, mit sich und anderen auszukommen, ist für ihn der Resilienzfaktor schlechthin.

„ …die Hilfe, die der Mensch für sich selbst finden kann, so wie er den inneren Lebensrhythmus, der sich mit ihm vollzieht, nach Möglichkeiten sozusagen abzuhören, den Rhythmus seiner Schläge und seiner leichtesten Abweichungen nicht zu sehr zu beachten, in unbewusster Reaktion zu bewahren weiß, in einer instinktiven Entspannung und Wiederfindung der Leichtigkeit des eigenen Daseins und Könnens.“

( a.a.O., S. 107)

Hier drückt sich eine gewisse innere Gelassenheit aus, Ausschläge nicht allzu bedrohlich zu nehmen. Aber auch Zulassen wird gefordert:

„Die Krankheit annehmen lernen –  vielleicht ist das eine der großen Veränderungen in unserer Zivilisationswelt, die durch die Fortschritte der Medizin herbeigeführt wird und neue Aufgaben stellt.“

(a.a.O., S. 119)

4. Die moderne Medizin

Ihr spricht Gadamer eine einzigartige Stellung in den Wissenschaften zu.

„Was die moderne Medizin kann, ist überwältigend.

(a.a. O.,  S. 37)

Aber in der immer größer werdenden Machbarkeit liegen für ihn auch die Gefahren. Ohne ins Detail gehen zu können – nicht alles, was machbar ist, sollte auch gemacht werden.

„Es bleibt die Aufgabe der Politik, die Anwendung unseres wissenschaftlich ermöglichten Könnens zu kontrollieren.“

(a.a. O., S. 43)

Gleichermaßen wendet er sich gegen die Normierungsversuche von Gesundheit durch die moderne Medizin, die sogenannte Standardwerte fixiert und Krankheit von einem Messwertebündel ableiten will.

Gadamer plädiert für eine kongeniale Verbindung des Angemessenen und des Gemessenen in der eigenen Lebensgestaltung.

Und völlig zeitlos, weitsichtig und antecorona fordert er:

„Das müssen die Menschen wieder lernen, dass alle gesundheitlichen Störungen, Wehwehchen und selbst alle Infektionen in Wahrheit Winke sind, das Angemessene, die Balance des Gleichgewichts wiederzugewinnen.” [sic]

( a.a. O.  S. 171)

Hans-Georg Gadamer war deutscher Philosoph (1900-2002)

Hans-Georg Gadamer

MedizinHuman Suhrkamp Ffm. 2. Auflage 2018

8,- Euro